Gab es in der Entwicklung der Menschheit nicht immer wieder große Schritte, die den jeweiligen Generationen sehr viel abverlangten? Ist es denn nicht bis heute gelungen, diese Herausforderungen dann letztlich doch zu meistern? 

 
Dr. Anne-Sophie Tombeil studierte Politikwissenschaft und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Florenz. Schwerpunkte ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit am Fraunhofer IAO in Stuttgart liegen in den Themenfeldern Gestaltung von Dienstleistungsprozessen, Dienstleistungsarbeit und Innovationsgeschehen sowie Foresight und Monitoring. Anlässlich des Beginns vom 8. Cross-Mentoring Programm in Augsburg hat sie mit uns über die Herausforderungen gesprochen, die die Arbeit in Zukunft mitbringt – und darüber, wie wir sie meistern können.
 
MFF: Frau Dr. Tombeil, Sie beschäftigen sich mit der Veränderung von Arbeitsprozessen. Auf Ihrem Vortrag zur Auftaktveranstaltung des 8. Crossmentoring-Programms in Augsburg haben Sie uns Mut gemacht, dass wir die Arbeitsmöglichkeiten der Zukunft gestalten und vorteilhaft für uns nutzen können. Aber was macht gute Arbeit denn genau aus?
 
Für gute Arbeit, da ist die Arbeitsforschung ganz klar, gibt es Kriterien. Das sind zum einen die Ausführbarkeit, zum anderen die Zumutbarkeit, die Erträglichkeit und die Persönlichkeitsförderlichkeit von Arbeit.
 
Die Persönlichkeitsförderlichkeit wiederum entfaltet sich an den Elementen Anforderungsvielfalt, Autonomie, Ganzheitlichkeit, soziale Interaktion und Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten.
 
Wichtig ist, mit diesen Anforderungen an oder Merkmalen von guter Arbeit nicht nur den Bereich hochqualifizierter Wissensarbeit zu verbinden. Gute Arbeit gestalten heißt, die gesicherten Kriterien umsichtig und informiert in den verschiedenen Kontexten, Anforderungs- und Qualifikationsniveaus von Arbeit anzuwenden. Dazu gibt es bewährte Instrumentarien der arbeitswissenschaftlichen Analysen, die bis heute nichts an ihrer Relevanz eingebüßt haben. Ergänzt werden diese durch neuere Entwicklungen zur Bemessung von Gefährdungspotenzialen der Digitalisierung. Digitaler Arbeitsschutz ist sicher ein Feld, das sich noch in Entwicklung befindet, aber wenn man Arbeit gut gestalten will, kann man das tun.
 
MFF: Sie haben auch davon gesprochen, dass die klassische Routinearbeit aufgrund der Entwicklung einer schwachen künstlichen Intelligenz immer mehr an Bedeutung verlieren wird. Stattdessen wird es darauf ankommen, Informationen zu filtern und priorisieren zu können, sie innerhalb breiter Netzwerke zielgerichtet vermitteln und bearbeiten zu können – und sie dann dienstleistungsorientiert möglichen Nutzern bereitzustellen. Das klingt danach, als würden wir in Zukunft noch flexibler, noch dynamischer handeln und denken müssen. Lastet da nicht ein enormer Druck auf den Arbeitskräften der Zukunft?
 
Ja und nein. Nach allem, was wir heute wissen können, werden es zunächst routinisierte, eher monotone Tätigkeiten sein, deren Automatisierung durch digitale Lösungen mit und ohne Künstliche Intelligenz wahrscheinlich ist. Aus der Sicht guter Arbeit ist das kein Nachteil für Beschäftigte, eher im Gegenteil. Zu erwarten ist ein höherer Anteil anspruchsvollerer Arbeit. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die stetige Qualifikation von Menschen – und zwar früh, schon in der Schule und auch dabei nicht nur durch die Vermittlung von Fachwissen sondern insbesondere durch die Verankerung von Methodenwissen und der Kompetenz das Lernen zu lernen – mindestens so wichtig genommen wird wie Bemühungen um technologische Innovation. Nur Qualifizierung (und natürlich der umfassende Netzausbau) schützen Unternehmen, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft vor der Digitalen Spaltung. Wichtig dabei ist, das Digitale als eines von vielen wirksamen Medien bzw. Arbeitsmitteln zu verstehen und souverän zu handhaben. Dann werden wir auch sehen, dass sich neue digitale Routinen herausbilden die, im Sinne guter Arbeit, geeignet sind, die nötige Entlastung innerhalb des Aufgabenspektrums eines Arbeitstages zu bieten. Zudem gilt: digitale Lösungen sind eine Herausforderung, ja, aber auch Teil der Lösung. Denn digitale Lösungen, wenn sie gut gemacht sind, helfen, komplexe, große Aufgaben besser, weil gut und mitlernend unterstützend, zu bewältigen.
 
MFF: Was passiert, wenn nicht jeder die Haltung aufbringen kann oder will, die der zukünftige Arbeitsmarkt erfordert? Werden alle da mithalten können?
 
Gab es in der Entwicklung der Menschheit nicht immer wieder große Schritte, die den jeweiligen Generationen sehr viel abverlangten? Ist es denn nicht bis heute gelungen, diese Herausforderungen dann letztlich doch zu meistern? Vielleicht liegt der gefühlte Unterschied zur Transformation heute darin, dass Transformationen der Vergangenheit kompliziert waren. Das heißt, es war viel zu bewältigen, aber irgendwann konnte man alle Teile beieinander haben. Man war sicher. Heute haben wir es mit Komplexität zu tun. Das heißt, wir können egal in welchem System, nicht mehr alle Teile überblicken. Kontext ist dynamisch. Die Beziehungen der verschiedenen Elemente untereinander können zu jedem Zeitpunkt unerwartete neue Situationen entstehen lassen. Die sogenannte Emergenz. Wir sind unsicher. Und müssen dennoch entscheiden. Digitalisierung schafft Komplexität und trägt zugleich dazu bei, mit dieser Komplexität zurecht zu kommen. Vorausgesetzt man erleidet Veränderung nicht, sondern gestaltet sie.
 
MFF: Ist das Bildungssystem allein in der Lage, uns auf diese mutige Gestaltung einer sich rapide wandelnden Berufswelt vorzubereiten? Oder müssen wir selbst an einer Mentalität der Selbstermächtigung arbeiten?
 
Unter Bedingungen der Komplexität sind alle Teile im System gefordert, Lösungen für Zusammenhalt zu entwickeln. Das Bildungssystem und andere wichtige Politikfelder, Innovation, Gesundheit, Umwelt, Arbeit, um nur einige zu nennen, die in besonders engem Zusammenhang zur Arbeitswelt stehen. Aber auch die Unternehmen, die Familien, jeder, jede Einzelne sind gefragt, die eigene Zukunft und die des Kontextes, in dem wir leben, mit zu gestalten. Selbstermächtigung, Teilhabe, Partizipation sind wichtige Begriffe. Aber auch Umsicht, Rücksicht und Weitsicht. Denn es geht gleichzeitig um jede, um jeden Einzelnen und um Zusammenhalt in einer Gesellschaft.
 
MFF: Es gibt immer wieder Stimmen, die dem Arbeitsmarkt eine düstere Zukunft prognostizieren: Automatisierung und Wegfall von Jobs, Massenarbeitslosigkeit, stärkere Selbstausbeutung, eine kleine Elite von hochspezialisierten Führungskräften und daneben ein Heer von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern mit zero-hour-contracts. Wird die digitale Revolution, ähnlich wie die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert, die soziale Frage neu aufwerfen?
 
Aus meiner Sicht ist die soziale Frage, allerdings anders als im 19. Jahrhundert, schon neu aufgeworfen. Die Frage nach den Werten, die unsere heutige bunte Gesellschaft zusammenhalten, ist auf der politischen Agenda und findet sich, bescheiden, aber immerhin, in Förderkontexten, die danach forschen, was zusammenhält und künftig zusammenhalten kann. Die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde intensiver, zurzeit leider nicht mehr so vordringlich wie nötig, geführt. Europa ringt um seine Neupositionierung auf belastbaren Werten. Das alles geht langsam, nicht ohne Konflikt, nicht ohne Opfer. Aber es geht. Vielleicht sind wir, und ich meine damit meine Generation 50 + und die noch Älteren, etwas satt geworden, und bequem, und auch ein wenig borniert. Sie sagen Leiharbeit, zero-hour-contracts, Selbstausbeutung. Ja, das ist schlecht. Aber wieso eigentlich fällt es uns so schwer, positive Worte für mehr Flexibilität, mehr Selbstbestimmung, öfter wechselnde Arbeitsbeziehungen zu finden? Sicher ist es wichtig, die hart erkämpften Errungenschaften einer sozialen Marktwirtschaft, eines Kapitalismus mit menschlichem Gesicht, zu bewahren. Was wir dazu brauchen, ist ein Zukunftsbild davon, was sicher bleiben muss und was flexibel werden darf, und wie beides zusammenpasst. Hier ist geeignete Regulierung und Gestaltung gefragt, auf der Basis von wissenschaftlichem und praktischem Wissen und von Haltung. Dazu beitragen müssen wir alle: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, organisierte Interessen, gesellschaftliche Gruppen und jede, jeder Einzelne.
 
MFF: In Ihrer Studie zu Arbeitstypen der Zukunft von 2013 zitieren Sie den tschechischen Ökonomen Tomáš Sedláček – „Die Apostel eines ständigen Wirtschaftswachstums und die Propheten einer ökonomischen Katastrophe haben die gleichen Statistiken zur Verfügung. Allerdings leiten die einen […] Hoffnung daraus ab, die anderen aber das genaue Gegenteil.“ Was bringt Sie dazu, hoffnungsvoll zu sein?
 
Seit über zwanzig Jahren gestalte ich am Fraunhofer IAO in kleinen und großen Projekten Veränderung. Mit meinem Mann zusammen ziehe ich drei Kinder groß und begleite alternde Eltern. Ich lese, fachliches und belletristisches, höre zu und gehe mit offenem und selbstkritischem Blick durch mein Stück der Welt. Täglich, im ganz Kleinen und im Mittelgroßen, erlebe ich Scheitern und dass Veränderung gelingen kann. Die Kontexte unserer Gegenwart sind komplex, die Herausforderungen groß. Aber: wir, Menschen, sind gut aufgestellt. Wir wissen viel, wir haben Werkzeuge und eine Historie, die gezeigt hat: Veränderung ist gelungen. Immer. Warum diesmal nicht?
 
MFF: Frau Dr. Tombeil, vielen Dank für das Interview!
 

Interview: Maximilian Priebe