Das Gefühl der Einsamkeit greift bei vielen Menschen immer weiter um sich, gerade auch nach Corona. Unsere Gesellschaft fordert Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Verbindlichkeit, Gewinn statt Stabilität. Mit den digitalen Welten bröckeln altbekannte Strukturen, die Alten bleiben zurück, die Jungen hetzen in eine entwurzelte Zukunft. Das jedenfalls beschreibt Diana Kinnert in ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ und stellt die Frage, wie wir in Zukunft Individualität und gesellschaftliches Miteinander vereinbaren können.

 

Wir haben mit der Autorin, Unternehmerin und CDU-Politikerin Diana Kinnert gesprochen, die am 22. Juni in unserer virtuellen Netzwerkveranstaltung sprechen wird (https://www.crossconsult.de/termine/).

 

Was verstehen Sie unter der „neuen Einsamkeit“?

Mit Einsamkeit assoziieren wir Situationen der Isolation, Leere und Verwaistheit. Menschen suchen soziale Interaktion und Verbindung; aber es ist niemand da, keine Seele weit und breit. Dieses Bild der suchenden Person in einer tristen Umgebung ist ein traditionelles, eher altes Verständnis von Einsamkeit. Unter neuer Einsamkeit verstehe ich Situationen, in denen Menschen in einem Meer anderer Menschen, Lautstärken und Trubel Verbindung aufbauen wollen, es aber aus Überforderung, Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit, Ängsten nicht gelingt. Beide Einsamkeitsbegriffe spielen in der heutigen Gesellschaft eine Rolle. Die alte Einsamkeit betriff eher die Hochaltrigen, Verwitweten, im ländlichen Raum von gesellschaftlichem Leben und sozialen Infrastrukturen Ausgeschlossenen. Die neue Einsamkeit lässt sich eher auf die jungen Städter anwenden, sie sind high performer und Individualisten durch und durch. Gerade in diesen Milieus steigt die Betroffenheit von Einsamkeit rapide. Und diese Einsamkeit ist eben nicht durch einen Umstand sozialer Verwaistheit zu erklären. Hier muss es um ein Defizit in der Qualität sozialer Interaktionen und Bindungen gehen.

 

Was hat Sie motiviert, dieses Buch zu schreiben? Was ist Ihr persönlicher Bezug zu dem Thema?

Ich habe vor über fünf Jahren in Großbritannien zum weltweit ersten Ministerium gegen Einsamkeit gearbeitet. So bin ich in das Thema gestolpert, ohne persönlichen Bezug oder direkte Motivation. Neben meinen Beratungen in Großbritannien habe ich Einsamkeitspolitiken in den Niederlanden, Österreich, Israel, Japan oder Australien kennengelernt. Mein Buch sollte das gesellschaftliche Phänomen Einsamkeit einem deutschsprachigen Publikum vorstellen; es sollte ein Sammelwerk zum Thema sein, bei dem ich die Forschungsergebnisse und politischen und gesellschaftlichen Ansätze aus anderen Ländern zusammentrage. Während des Schreibprozesses fiel mir auf, dass es zwar zahlreiche Thesen und Erkenntnisse zu alter Einsamkeit gibt, die neue Einsamkeit aber sorgsam umschwiegen blieb. Insofern hat mich vor allem die Einsamkeit der jungen Menschen, der Singles, der Städte, der digitalen Berufstätigen interessiert. Das Buch ist schlussendlich eine Motivsuche nach ihrer Einsamkeit geworden.

 

Nach den Studien, die Sie zitieren, hat jemand, der unter Einsamkeit leidet, ein etwa 30 Prozent höheres frühes Sterberisiko. Einsamkeit sei ein sozialer Stressor, der nicht nur Depression und Angst, sondern auch Demenz,- und Herzkreislauferkrankungen begünstigt. Gibt es hier einen Unterschied die Geschlechter betreffend?

Das kann man so nicht sagen. Einsamkeit wirkt sich enorm auf die Gesundheit aus, in einem negativen Sinne. Es schwächt das Immunsystem, verschlechtert Heilungsprozesse, erhöht die Ansteckungsgefahr. Zugleich gibt es indirekte gesundheitliche Auswirkungen: Wer einsam ist, fällt häufiger aus Alltagsroutinen. Dann bleiben sportliche Betätigung und gesunde Ernährung auf der Strecke; der Schlaf ist gestört, Suchterkrankungen sind wahrscheinlicher. Inwiefern Männer und Frauen in diesen Zusammenhängen unterschiedlich betroffen sind, weiß ich nicht. Was ich weiß: Altersarmut macht Einsamkeit wahrscheinlicher; von ihr sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Witwenschaft macht Einsamkeit wahrscheinlicher; von ihr sind Frauen durch ihre höhere Lebenserwartung auch häufiger betroffen. Insofern würde sich lohnen, dass die Forschung geschlechtsspezifische Unterschiede beim Thema Einsamkeit in den Blick nähme.

 

Die neue Einsamkeit, Diana Kinnert

Wenn Einsamkeit eine so starke gesundheits- und lebenszeitrelevante Auswirkung hat, was bedeutet das Ihrer Meinung nach für Unternehmen und für Führungskräfte in der Begleitung ihrer Mitarbeitenden? Was können Unternehmen und Führungskräfte konkret tun?

Einsamkeit ist noch immer ein unverstandenes, von Vorurteilen durchsetztes, schambehaftetes Phänomen. Insofern wäre ein erster Schritt, überhaupt eine offene Gesprächskultur zu diesem Thema zu kreieren. Ein gesunder, moderierter Gesprächsrahmen, in dem nicht nur von der Anzahl sozialer Kontakte und Verbindungen, sondern auch von der Qualität dieser gesprochen wird, kann helfen, Situationen und Prozesse im Arbeitsstrukturen zu analysieren. Fakt ist, dass Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, ein Umfeld von Vertrauen und Respekt, auf das Wohlbefinden, die Gesundheit, die Kreativität und die Produktivität am Arbeitsplatz einzahlt. Offene Runden, konstruktives Feedback, Beteiligungsformate, Teilhabe an Verantwortungsprozessen, Maßnahmen zum Teambuilding, all diese Maßnahmen lohnen sich für Arbeitnehmer und für Arbeitgeber.

 

Bei jungen Menschen sehen Sie die Gefahr, dass die Unfähigkeit zur Intimität und einen Mangel an Vertrauen zunimmt. Haben Sie eine Idee, was wir als Gesellschaft dagegen tun können? Und was kann jede und jeder selbst tun?

Junge Menschen leiden vermehrt und zunehmend unter Einsamkeit. Das ist keine These, das ist ein Befund. Die Frage ist: Womit hat das zu tun? Ich glaube, dass die Erfahrung von permanenter Krise, von Trump über Brexit zu Klimakatastrophe, Corona und Krieg, daran Anteil haben. Wer ständig Brüche erfährt, gibt sich selbst nicht frei, stellt sich für die permanente Enttäuschung und Verletzung nicht zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es gesellschaftliche Trends, die Disruption als Elementarerfahrung verstärken: Die Individualisierung mit ihrer immer stärkeren Personalisierung, die Digitalisierung mit ihren Echokammern und Filterblasen, die Wirtschaft mit ihrer entkoppelte Geldwirtschaft statt natürlichem Wachstum. Ich bin der Meinung, dass die Verherrlichung von Bindungslosigkeit, das Plädoyer für unendliche Flexibilität und das übersteigerte Selbstbild des Menschen, er habe nichts und niemanden nötig, eine kulturelle Verklärung sind, gegen die sich eben auch Kultur an sich richten muss. Es ist unsere Aufgabe, in allen gesellschaftlichen Feldern Bindungsfähigkeit, Verbindlichkeit und Solidarität zu gültigen Werten zu erklären.

 

Vielen Dank für das Gespräch!