Ein Beitrag von Dr. Nadja Tschirner 

Die Krise offenbart sie, die Ungleichheiten, die sich scheinbar aufgelöst hatten. Besondere Frauenförderung? Braucht es doch nicht mehr. Frauen sind heute ausreichend selbstbewusst, um einen Fair-Share einzufordern. Frauenstudiengänge? Ach, die sind in Deutschland doch gar nicht nachgefragt. Warum die Zahlen von Frauen, die sich für MINT-Fächer, interessieren weiterhin stagnieren, muss an den Interessen von Frauen liegen. Unterstützung beim Thema Karriere mit Kind? Was für ein Ansinnen, starke Frauen setzen sich selbst durch, ansonsten sind sie für das Management auch gar nicht geeignet. Corona richtet den Scheinwerfer nun aber auf das was kaum mehr jemand zu sehen bereit war. Die Krise offenbart wie weit wir in Wirklichkeit mit der Umsetzung der Chancengleichheit waren: großer Optimismus, der nicht den Tatsachen entspricht.

In der Krise zeigt sich was von wem ganz selbstverständlich erwartet wird. Während Männer sich entscheidungsfreudig, durchsetzungsstark, autonom und führungsstark zeigen sollen und dürfen, wird von Frauen klar erwartet, dass sie jede weitere Belastung ertragen, kreative Lösungen finden, irgendwie klar kommen, sich aber auf keinen Fall beschweren. Hier offenbaren sich etablierte Machtgefüge, die nicht in Frage gestellt werden. Hauptsächlich männlich geprägte Expertengremien erklären die Welt, fällen Entscheidungen, definieren, wer Unterstützung verdient hat, welche Berufe systemrelevant sind. Das heißt nicht, dass nicht auch Männer unter diesem Machtgefüge leiden, im Zweifel haben sie aber bessere Netzwerke, um zu wissen, wie man die eigenen Interessen durchsetzt. Und es zeigt sich wieder einmal, dass alles eine Frage der Wahrnehmung ist. Frauen haben gelernt zurück zu stecken, sich nicht zu wichtig zu nehmen, die anstehenden Aufgaben fleißig abzuarbeiten, und vor allem ihren Männern den Rücken frei zu halten. Das heißt nicht, dass junge Paare nicht für sich den Wunsch formulieren würden, ein modernes Familienmodell zu leben, das auf Gleichberechtigung ausgelegt ist.

 

„Denn bei aller Modernität bleibt das doch die Erwartung: wenn es eng wird, reduziert sie ihre Arbeitszeit und er arbeitet noch mehr, um erfolgreich die Zukunft der Familie zu sichern.“

 

Was aber tun, wenn der Chef des Mannes klar signalisiert, dass eine Elternzeit von mehr als 2 Monaten ein klarer Karrierekiller ist, wenn Frauen nach wie vor beim Job zurückstecken, da sie ja weniger verdienen und meist in Teilzeit arbeiten, um ihren Familienpflichten nachkommen zu können. Denn bei aller Modernität bleibt das doch die Erwartung: wenn es eng wird, reduziert sie ihre Arbeitszeit und er arbeitet noch mehr, um erfolgreich die Zukunft der Familie zu sichern. Und damit stecken beide in einem Teufelskreis, der scheinbar kein Entrinnen ermöglicht. Der Weg aus dem Dilemma führt hingegen nur über die Erweiterung der eigenen Wahrnehmung. Es ist nicht angenehm, sich darüber im Klaren zu werden, dass die Welt nicht gerecht ist und was man unter Umständen dazu beiträgt, das einen selbst benachteiligende System aufrecht zu erhalten.

Sicherlich ist es auch schmerzlich, die eigene Ohnmacht zu reflektieren und die eigene erlernte Hilflosigkeit zu hinterfragen. Und ganz sicher ist es auch irritierend, die Erwartungen der anderen nicht mehr vollumfänglich zu erfüllen, da dies auch mit Liebesentzug oder Kontaktabbruch einhergehen kann. Da sich das System als solches nicht plötzlich ändern wird und das stereotype Denken, das Frauen die passive und den Männern die aktive Rolle zuschreibt, nicht verschwinden wird, braucht es einen Ansatz, der auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist. Vielleicht braucht es etwas, was gerade in Krisenzeiten eine Renaissance erlebt: Warnhinweise mit Verhaltensregeln, da wir Menschen offenbar sogar in Coronazeiten immer wieder aus der Wahrnehmung verbannen, was eigentlich schon längst ins Bewusstsein vorgedrungen sein sollte: es gibt eine Bedrohung, die wir nicht schmecken, riechen oder ertasten können, und doch ist sie da.

Wie könnten Warnhinweise zum Thema Chancengleichheit aber aussehen? Hier ein erster Vorschlag. Wenn Ihnen weitere Punkte einfallen, lassen Sie es mich wissen.

  1. Beim ersten Anflug von Selbstlosigkeit, überprüfen Sie, ob Sie die einzige sind, die selbstlos handelt.
  2. Wenn jemand über Ihre Grenzen marschiert, prüfen Sie, ob Sie die Grenzen ausreichend klar markiert haben.
  3. Wenn Sie kein Gehör für Ihre Beiträge finden, checken Sie, ob das Mikro eingeschaltet ist, und ob das Gegenüber über funktionierende Lautsprecher verfügt.
  4. Immer wenn jemand an Ihre Vernunft appelliert, machen Sie den Gegencheck und prüfen Sie, ob das Gegenüber ebenfalls vernünftig handelt.
  5. Wenn Sie anderen den Vortritt lassen, überlegen Sie, ob es auch eine Alternative gegeben hätte.
  6. Wenn sich verzichten, ganz selbstverständlich anfühlt, überprüfen Sie, ob Sie stets die Einzige sind, die verzichtet.
  7. Bitten Sie nicht um Schutzausrüstung, sondern fordern Sie sie ein, denn nur die die laut sind, werden bei der nächsten Lieferung bedacht.
  8. Sollten Sie Angst haben, dass alles auf Ihrer Einbildung beruht und die Dinge sicherlich nicht so schlimm sind, wie Sie sie wahrnehmen, suchen Sie sich Dialogpartner*innen, mit denen Sie die Situation reflektieren können.
  9. Eine Pandemie oder eine Systemveränderung hat bisher noch niemand allein bewältigt. Suchen Sie sich Mitstreiter*innen, die Ihrem Anliegen Gehör verschaffen. Unterstützer*innen sollten unbedingt auch aus dem Top-Management Ihrer Organisation kommen.
  10. Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob Sie überhaupt von Bedeutung sind, überlegen Sie sich, was passieren würde, wenn Sie von jetzt auf gleich weder Ihren Job machen noch Ihre Familie organisieren würden.

 

Zu den Themen Chancengleichheit, Vereinbarkeit, Diversity und Mixed Leadership bieten wir regelmäßig das Cross-Company Dialog Forum an. Hier können sich Gleichstellungsbeauftrage, HR-Mitarbeiter*innen und diejenigen, die an oben genannten Themen in ihrem Unternehmen involviert sind, vernetzen und austauschen. Der unternehmensübergreifende Ansatz bietet neue Perspektiven und innovativen Austausch.

Sie würden gerne Teil des Cross-Company Dialog Forums werden? Nehmen Sie Kontakt zu uns auf unter info@crossconsult.de oder rufen Sie uns an unter 089/ 4 52 05 26 – 0